Rosaleen Norton – Die vergessene Magierin

Die Namen Aleister Crowley, Austin Osman Spare, vielleicht sogar Dion Fortune dürften all jenen bekannt sein, die sich zumindest oberflächlich mit den Themenbereichen Magie und Okkultismus beschäftigt haben. Ihre Zeitgenossin Rosaleen Norton hingegen geriet unter die Räder der Geschichte und in Vergessenheit. Zu Unrecht, denn ihre Person, Magie und Kunst sind nach wie vor relevant – unabhängig davon, ob man ihre Malerei ästhetisch ansprechend findet oder nicht. Die Quellen, um mehr über Rosaleen Norton zu erfahren, sind überschaubar. Der Edition Roter Drache Verlag veröffentlichte 2013 das Buch Rosaleen Norton – Leben – Kunst – Sexualmagie von Nevill Drury, der seit 1988 zahlreiche Artikel und Bücher über sie schrieb. 2020 erschien die Dokumentation „Die Hexe von Kings Cross“. Sie selbst hinterließ eine Vielzahl an Bildern, ein paar Gedichte, aber – im Gegensatz zu den eingangs erwähnten Magier/innen – kaum konkrete theoretische Aufzeichnungen ihrer magischen Arbeit. Am aussagekräftigsten sind die Angaben, die sie gegenüber Psychologin L.J. Murphy machte, so wie der Text über ihre magische Praxis, den sie in Murphys Auftrag verfasste – enthalten im Anhang des oben erwähnten Buches. Magie und Kunst verschmolzen in ihrem Leben zu einer untrennbaren Einheit. War Rosaleen Norton eine magische Künstlerin oder eine künstlerische Magierin? Oder doch ein Marketing-Genie, die ihrer Zeit weit voraus war und sich geschickt in Szene setzte?

Leben

Rosaleen Norton, die von ihren Freundinnen und Freunden liebevoll Roie genannt wurde, erblickte 1917 in Dunedin, Neuseeland das Licht der Welt. Bzw. die Dunkelheit, denn ihre Mutter gebar sie in einer stürmischen Nacht. Roie führte ihre Liebe zur Dunkelheit und Stürmen rückblickend darauf zurück. Mit sieben Jahren zog sie mit ihrer Familie, die neben einer emotionalen Mutter und einem abwesenden Vater zwei ältere Schwestern umfasste, in einen Vorort von Sydney, Australien. Zu dieser Zeit erschienen drei blaue Male auf ihrem linken Knie. Zusammen mit ihren außergewöhnlich spitzen Ohren für Roie ein Beweis dafür, dass sie als Hexe geboren wurde. Als Kind lebte sie in einem Zelt im Garten, das sie sich mit Spinnen und Insekten teilte. Die Natur schärfte ihre Sinne, eine unsichtbare Welt voll mysteriöser Kräfte offenbarte sich ihr: Pans Königreich. Mit 13 verschrieb sie sich einem heidnischen Lebensstil mit Pan im Mittelpunkt.

Drei Jahre später, nach dem Tod ihrer Mutter, verließ sie ihr Elternhaus und studierte Kunst bei Bildhauer Rayner Hoff. Sie arbeitete als Aktmodell für Maler und ernährte sich aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen hauptsächlich von Tee und Alkohol. 1935 lernte sie ihren Ehemann Beresford Lionel Conroy kennen, von dem sie sich scheiden ließ, als er aus dem 2. Weltkrieg nach Sydney zurückkehrte. Sie veröffentlichte Illustrationen im Magazin Pertinent, das sich als Ausdrucksmittel für all jene verstand, die etwas Konstruktives, Interessantes, Unterhaltsames und Relevantes zu sagen hatten. Über Pertinent traf Roie den 13 Jahre jüngeren homosexuellen Dichter Gavin Greenless, mit dem sie eine Beziehung einging und die folgenden Jahre zusammenarbeitete. Das Verbot von Homosexualität hielt beide nicht davon ab, ihre queere Sexualität mit wechselnden Partnerinnen und Partnern auszuleben. Roies Bilder fanden ihren Weg in die Öffentlichkeit. Sie hingen in Gruppenausstellungen, Cafés und Nachtclubs. Ihre erste Soloausstellung 1949 in Melbourne geriet allerdings zur Farce, da die Polizei vier Werke daraus als zu obszön entfernte. Zurück in Sydney zogen Roie und Greenless nach Kings Cross, einem berüchtigten Rotlichtbezirk, in dem sich all jene Außenseiter tummelten, die ihre Nächte lieber mit rauchen, trinken und philosophischen Gesprächen anstatt mit Schlaf verbrachten. Die Polizei führte regelmäßig Razzien durch und nahm Roie und Greenless wegen Landstreicherei fest. Man war ihnen vor, über zu wenig Geld zu verfügen und keiner festen Arbeit nachzugehen. 1952 veröffentlichte Walter Glover das auf 500 Exemplare limitierte Buch The Art of Rosaleen Norton, das neben Roies Bildern auch Greenless Gedichte enthielt. Wieder sorgten Roie explizite Bilder für Aufruhr. Glover wurde wegen Herstellung obszönen Materials festgenommen und Roie musste sich erneut vor Gericht für ihre Kunst rechtfertigen. Das Gericht entschied, dass das Buch mit zwei geschwärzten Seiten weiterhin vertrieben werden darf. Trotzdem setzten sich die Probleme mit der Polizei fort: eine psychisch kranke Frau behauptete medienwirksam an einer satanischen Messe in Roies Haus teilgenommen zu haben, eine Lokalbesitzerin wurde für die Ausstellung Roies Bilder angeklagt und Greenless und Roie saßen kurzzeitig in Untersuchungshaft, da gestohlene Fotos sie bei „unnatürlichen Sexualakten“ zeigten. Der spätere Freispruch änderte nichts an ihrem Ruf, der seit der Geschichte mit Eugene Goossens ohnehin für immer zerstört war.
Der an Okkultismus interessierte Sir Eugene Goossens war auf eine Ausgabe von The Art of Rosaleen Norton gestoßen und hatte daraufhin Kontakt zu ihr aufgenommen. Der gefeierte britische Komponist und Dirigent trat gerade seine Festanstellung als Dirigent des Sydney Symphonieorchesters an, als er sich mit Roie anfreundete. Er nahm an Ritualen ihres Hexenzirkels teil und tauschte sich, wenn er außer Landes war, in seinen Briefen an Roie unverblümt über Sexualität und Magie mit ihr aus. 1956 durchsuchte der Zoll bei der Wiedereinreise nach Australien Goossens Taschen und stellte Ritualmasken und Nacktfotos sicher, die als verbotenes Material galten. Sie nahmen Goossens fest. Seine Karriere endete sofort. Unter falschem Namen reiste er zurück nach England, wo er wenige Jahre später verstarb. Die Medien hetzten gegen Roie und gaben der Hexe Schuld für Goossens Fall. Sie selbst litt unter der öffentlichen Schmach und der Trennung von Goossens. Als Greenless wegen epileptischer Anfälle und Schizophrenie in die Psychiatrie kam, startete Roie Ende der 50er-Jahre allein ihren persönlichen Krieg gegen die australischen Medien. Sie kämpfte gegen die falsche Darstellung ihrer Person, indem sie sich als Stereotyp der Hexe verkaufte und das ganze so ad absurdum führte.
Mit der Gegenkultur der 60er-Jahre holte ein Teil der Gesellschaft endlich zu Roie auf. Was sie in den 40ern und 50ern bereits gelebt hatte – die sexuelle Befreiung der Frau, das Ausleben queerer Neigungen und Okkultismus als künstlerische Inspirationsquelle – griffen die Hippies auf und schockten ihre Elterngeneration, zu der eigentlich auch Roie gehörte. Roie zog sich malend zurück und starb 1979 an Darmkrebs. Kurz vor ihrem Tod sagte sie zu einem Freund: „Ich kam mutig in diese Welt und ich werde sie mutig wieder verlassen .“ Bis zum Schluss blieb sie ihrem Schwur, den sie sich als 13-jährige geleistet hatte, treu und hielt an ihrer Verehrung Pans fest.

Sex – Magie – Kunst

Laut Autor Drury bestand Roies magische Praxis im Wesentlichen aus vier Elementen: Trance-Magie, Sexualmagie, improvisierte Rituale und Experimente. Schon früh arbeitete sie mit Selbsthypnose. Zum einen zapfte sie so ihr Unbewusstes an, um an verborgene Schichten des kollektiven Bewusstseins zu gelangen. Dafür sammelte sie Reize, die ihren Verstand umgingen und direkt das Unbewusste ansprachen: z. B. aromatische Blätter, Wein, brennendes Feuer und mumifizierte Hufe. Im abgedunkelten Zimmer trank sie einen Schluck Wein, roch an den Blättern, starrte auf die Hufe und befreite ihren Geist von allen bewussten Gedanken. Der Sinn der symbolischen Zeichnungen, die so entstanden, offenbarte sich ihr oft erst später. Neben automatischem Zeichnen – das ihr den Vergleich mit Austin Osman Spare einbrachte – experimentierte sie auch mit automatischem Schreiben. Über zehn Monate kommunizierte sie so mit einem verstorbenen Freund und erhielt Informationen über höhere Mathematik, Symbolismus und die Struktur des Unbewussten. Das automatische Schreiben steigerte sich zu hellhören, eine noch unmittelbarere Kommunikationsform, die weitere Informationen mit sich brachte. Zum anderen benutzte sie Trance-Magie, um ihr Bewusstsein auf eine höhere Astralebenen zu erheben, auf der sie sich mit Göttinnen und Göttern austauschte. Im Gegensatz zu anderen Magierinnen und Magiern, die sich auf das Dirigieren des eigenen Willens konzentrierten, glaubte Roie an eine real existierende und von ihr unabhängige Bewusstseinsebene der Gottformen. Das gegenseitige Entgegenkommen – Gottformen stiegen Astralebenen hinab, Roies menschliches Bewusstsein stieg hinauf – ermöglichte Begegnungen. Zusätzlich half ihr eine Entität namens Janikot, die als Wächter zum magischen Bewusstsein fungierte. Janikot leitete sie an, überwachte Trance-Zustände und stellte Kontakte her. Unter anderem zu Pan, der für Roie, seitdem sie 13 war, das Fundament des Universums und allen Wissens bildete. „Ich denke, der Gott Pan ist der Geist, dessen Körper – oder das, was davon in diesen vier Dimensionen (die vierte Dimension ist die Zeit) erkannt werden kann – der Planet Erde, und welcher, in einem sehr realen Sinne der Herrscher und Gott dieser Welt ist. Vielleicht ist das der Grund, warum man ihm den Namen ‘Pan’ gab, das Wort, das im Griechischen „alles“ bedeutet (…)“
Ihre Erfahrungen mit Entitäten und Göttern wie Janikot, Pan, Lucifer, Lilith, Fohat etc. verarbeitete sie in ihrer Malerei. Dabei ging es ihr nicht nur um persönliche Erlebnisse, sondern um kollektive Erfahrungen, die allen offenstanden. Ihre Bilder brachten Schatten ans Licht, deren Anblick das Publikum mit den eigenen dunklen Aspekten konfrontierte. Fehlte die Integration ins eigene Selbst, schlug dies häufig in Ablehnung ihrer Bilder um. Insofern sind die expliziten Sexualakte und übergroßen Penisse nicht als bildlich pornografisch, sondern symbolisch zu verstehen. Fruchtbarkeitsdarstellungen und Archetypen, wie C.G. Jung sie in seinem Werk beschrieb.
Außerdem bezog sich Roie – wie Drury schreibt – auf die jüdische Kabbalah als “ ihre hauptsächliche Landkarte magischen Bewusstseins“. Sie fühlte sich besonders zu den Sephiroth Binah und Geburah hingezogen, sowie zur dunklen Seite der Kabbalah, den so genannten Qliphoth. (Interessierten sei an dieser Stelle das Buch Kabbalah, Qliphoth und die Goetische Magie von Thomas Karlsson empfohlen).
Die Sexualmagie, die sie mit den Mitgliedern ihres inneren Hexenzirkels in ihrer Wohnung ausübte, basierte auf den Schriften Aleister Crowleys. Über die Mitgliederzahl des Zirkels, dem sie vorstand, gibt es widersprüchliche Angaben. Klar ist nur, dass zu den Techniken sämtliche tabulosen Praktiken queeren Sex, Sadomaso und die Verwendung von Ritualmasken zählten. Roie liebte Sex und verkehrte vor allem mit männlichen und weiblichen Homosexuellen, bei denen sie den aktiven Teil ausübte. Während des Akts vergaß sie sich selbst. Im Interview mit Psychologin L.J. Murphy gab sie an, sich danach an nichts, außer körperlicher Lust zu erinnern: “denk dabei einfach nicht: Gespanntheit, Lustaufbau, Spannungsabbau und nichts dabei denken .”
Ihr Zirkel arbeitete außerdem mit rituellen Elementen aus dem Kundalini-Yoga, Tantra des Linkshändigen Pfades und Voodoo. Sie übte die Funktion der Hohepriesterin am Altar des Pan aus.
Für ihre magischen Experimente wie das, vom traditionellen Hexensabbat abgeleitete, magische Fliegen, wendete sie verschiedene Drogen an. Generell nutzte Roie sämtliche Mittel zur Berauschung und Bewusstseinsveränderung. Obwohl sie sich selbst als Hexe bezeichnete, hatte sie wenig mit den Anhängerinnen und Anhängern von Wicca gemeinsam, die heutzutage als Hexen gelten. So schrieb Autor und Magier Jan Fries über Roie, dass sie in ihren Praktiken viel weiter ging, „als es die meisten heutigen Hexen tun .“

Mediale Inszenierung

Nach ersten positiven Berichten über Roies Kunst Ende der 40er-Jahre, konzentrierten sich die Printmedien der 50er-Jahre vor allem darauf, sie als skandalös zu inszenieren. Ihr freizügiger Umgang mit Nacktheit und ihre offen zur Schau gestellte Sexualität, für die sie sich weder schämte noch beschämen ließ, boten im konservativ-christlichen Australien den perfekten Nährboden für reißerische Artikel. Hinzu kam der magisch-okkulte Überbau ihrer Kunst, für den man sie als satanische Teufelsanbeterin verunglimpfte. Die Razzien, mit denen die Polizei sie bis in die 60er-Jahre sekkierte und die ihr u. a. eine Verurteilung „für den Gebrauch unanständiger Worte“ einbrachte, heizten die Berichterstattung weiter an. Die Medien tauften sie die Hexe von Kings Cross, was dazu führte, dass Touristen in die Cafés und Clubs des Viertels strömten, um einen Blick auf die berüchtigte Hexe zu erhaschen. Sobald sie ihre Wohnung verließ, war sie Anfeindungen ausgesetzt. Trotzdem gab sie weiterhin Interviews und versuchte ihr Bild in der Öffentlichkeit gerade zu rücken. So sagte sie unter anderem: „Ich möchte keinen Kult propagieren – auch nicht den Hexenkult -, die Gesellschaft verändern, eine bessere Welt für andere errichten. Diese Dinge lassen mich völlig gleichgültig. Ich habe das, was ich lieber als Funktion beschreibe. Die Funktion des Fokus und Katalysators. Und dieser Funktion wird am besten dadurch gedient, dass ich meinen eigenen persönlichen Willen ausübe. Und mich einen Dreck darum kümmere, was gut oder schlecht für andere ist.“
Ab Ende der 50er bis Mitte der 60er-Jahre drehte Roie den Spieß um. Sie setzte sich einen spitzen Hexenhut auf, schnappte sich Besen und Katzen und posierte für Zeitungsfotografen als Bilderbuchbeispiel einer Hexe. Nach dem Motto „jede Publicity ist besser als keine Publicity“ spielte sie mit den Interviewern und gab Sätze zu Protokoll wie: „Wenn Pan der Teufel ist, dann bin ich eine Teufelsverehrerin .“ Sie behauptete als Hexe geboren worden zu sein, fertigte Talismane an und nahm Verhexungen vor, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Hin und wieder verkaufte sie günstig einige ihrer Bilder.
Diese stereotype Inszenierung veranlasste Jan Fries zu der Frage, ob sie das nötig hatte. Dabei übersieht er die Ironie und den Humor, den Roie sich zunutze machte. Dieser offensive Umgang mit den Medien lässt sich als feministische Selbstermächtigung einer Frau lesen, die genug davon hatte, andere bestimmen zu lassen, was über sie in der Zeitung stand. Wenn sie schon Blödsinn schrieben, dann wenigstens den Blödsinn, den sie ihnen diktierte. 1975, Roie lebte bereits zurückgezogen, suchte sie das letzte Mal ein Reporter auf. Angestachelt von der Veröffentlichung des Films The Exorcist, wegen dem eine Untersuchungskommission zum Okkulten der anglikanischen Kirche eingesetzt wurde, sprach ein Journalist mit Roie über reelle Gefahren von Magie. Sie verglich Magie augenzwinkernd mit Drogen, die „mit einem ganz schön was machen “. Leute würden womöglich Entitäten in die Welt bringen, von denen sie nichts wissen und mit denen sie nicht umgehen könnten. Kinder könnten theoretisch über Ouija-Bretter Kontakt zu Geistern herstellen, allerdings sah Roie darin keine Gefahr. Warum auch? Sie selbst hatte bereits als Kind mit Göttern und Entitäten einer anderen Ebene Kontakt aufgenommen und es hatte ihr Leben mit Sinn und Inspiration gefüllt.

Neben ihren Bildern, in denen man auch heute noch seine eigenen Schatten erkennt, ist es vor allem die Konsequenz, mit der Rosaleen Norton ihr Ding durchzog, die Anerkennung verdient. Ihre Magie exerzierte sie nicht wie die Männer ihrer Zeit in theoretischen Schriften durch, dennoch klafft ein Loch im Kanon der großen Magier/innen, wenn man sie weiterhin übersieht. Wer sich ihr und ihrer Magie annähern will, klappt lieber die Bücher zu, zieht sich mit Rotwein und stark riechenden Naturfunden in ein dunkles Zimmer zurück und befreit den Geist von Gedanken. Mit Übung und Glück eröffnet sich einem so die Welt von Rosaleen Norton.

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