Merciful Nuns – Last Interview

Wenn eine erfolgreiche Band auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität mit einem Meisterwerk aufhört, ist das im Grunde der Idealfall. Dennoch: Die Welt war ein wenig aufregender mit den Merciful Nuns und ihren musikalisch-philosophischen Entdeckungsreisen. Was bleibt, ist eine Hinterlassenschaft von zehn großartigen Alben, von denen eines noch entdeckt werden kann und sollte. „Anomaly X“ erscheint im April und ist das finale Album der Merciful Nuns, der Schlusspunkt und die Quintessenz ihres Schaffens. Tauchen wir zusammen mit Artaud Seth ein letztes Mal ein in die wunderbare Welt der Merciful Nuns und hören, was er zu „Anomaly X“ zu sagen hat.

Ich bin, ehrlich gesagt, noch nicht mal über das Ende von Garden of Delight hinweg und werde immer wieder aufs Neue melancholisch, wenn ich das letzte, so großartige GoD-Album höre, nun tragt ihr schon wieder das nächste Projekt zu Grabe. Warum? Artaud: Vielleicht brauche ich die Transformation von einer Inkarnation zur anderen als Prozess der Reinigung. Schwierig zu sagen. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich mehr Faszination am Endlichen oder am Neuanfang habe. Vielleicht beides zugleich. Trauer und Aufbruch, Tod und Leben, das liegt für mich sehr nahe beieinander. Diesmal ist aber anders. Der Bruch liegt tiefer, die Beweggründe sind auch andere. Wir haben in nur 8 Jahren 10 Alben aufgenommen. Das ist enorm viel und saugt eine Band auch leer. Kreativität, wenn sie einer bestimmten vorgegebenen Linie folgt, ist endlich. Sie droht sich zu wiederholen, und das möchte ich vermeiden. Und ehrlich, wo soll ich mit der Band denn auch noch hin? Es ist alles erreicht, mehr geht nicht. Wir spielen jetzt seit Jahren im Wechsel die größten Festivals, die es für unsere Art der Musik gibt. Da in der Regel an exponierten Positionen. Mehr Erfolg geht auch nicht. Es gibt kein Höher, Weiter mehr. Wir sind im Rahmen unseren Möglichkeiten oben angekommen. Ich drehe mich im Kreise. Jedes Wort ist geschrieben, jede Notenfolge gespielt. Unser Nachlass sind 10 Alben. Das ist genug.

War es eigentlich Deine alleinige Entscheidung oder die der ganzen Band? Artaud: Das war meine Entscheidung.

Und wie haben die anderen Merciful Nuns darauf reagiert? Artaud: Niemand war glücklich darüber. Ich glaube aber, sie hatten es schon geahnt. Jawa kannte meine Gedankengänge natürlich schon länger. Aber selbst sie hatte wohl auch nicht damit gerechnet, dass es in dieser Konsequenz so schnell kommen würde. Obwohl schnell relativ ist. Defacto dauert es ja noch bis Herbst 2019. Denn live möchte ich das Album auf jeden Fall noch zu Gehör bringen.

Aus welchem konkreten Anlass heraus, kam Dir die Erkenntnis, dass nach „Anomaly“ Schluss sein sollte? Artaud: Es kam als Begegnung mit dem Tod daher, inmitten des Songwritings irgendwann Ende November. Ein Mitglied unsere Loge, Frater Fidens, starb unerwartet und plötzlich. Es gab Leute um mich herum, die seinen Tod sehr mitnahm. Überall spürte ich diese tiefe Traurigkeit und das eigene Unbehagen des älter Werdens, das kalte Gefühl sich dem Tode zu nähern. Diese Traurigkeit floss in den letzten Song des Albums, THE PYRAMID. Ein Freund sagte mir vor ein paar Wochen, das in dem Song Frater Fidens für ein paar Sekunden wieder zum Leben erweckt wurde. Das war wahrscheinlich das wunderbarste, was ich je über meine Musik gehört hatte. An jenem Tag wusste ich, dass der Weg von MERCIFUL NUNS ein bald endender sein wird.

Die Themen, die Du mit dem Projekt umgesetzt hast, sind ja sehr große, auch philosophische, denen Du viel Zeit und Bedeutung in Deinem Leben gibst. Bleibt das so, und nur die Merciful Nuns haben keine weitere Zukunft, oder haben sich diesbezüglich Deine Interessen und Denkansätze insgesamt in eine andere Richtung entwickelt? Artaud: Egal was ich mache, es wird immer über die Fragen aller Fragen gehen: Woher kommen wir (der Mensch)? Und wohin gehen wir (die Menschheit)? Die philosophischen Aspekte in meinen Texten und Konzepten sind die, die mich umtreiben.

Warum habt ihr „Anomaly X” als Titel für euer letztes Album als Merciful Nuns gewählt? Artaud: Vielleicht beschreibe ich es mal so: ich habe einen Begriff für uns Menschen gesucht, der im Kontext zu unserer Umwelt steht. Ein Wort, welches aufzeigt, dass in einer perfekt abgestimmten Umwelt, etwas lebt, was von zerstörerischer Natur ist. Die Anomalie, „der Sprung im Universum“, das sind wir selbst. Wir sind diejenigen, die hier nicht hingehören. Wir sind die Anomalie auf Erden und demnächst wieder darüber hinaus. Soweit der Hintergrund. Auf dem Album reduziere ich das „Wir“ oder die „Menschheit“ auf eine einzelne, unbenannte Person. Er oder sie nennt sich die Anomalie.

„Anomalie“ ist also eine Metapher für eine bestimmte Person? Artaud: Ja. Eine Person als Stellvertreter für alle.

Woher stammt dieses Mal die Inspiration zum Album? Artaud: Aus mir selbst und meinen Gedanken. Die werden durch „Erlebtes“ oder „Gesehenes“ beeinflusst. Ich beobachte gerne. Vielleicht ist es auch eine Ab- und Aufarbeitung von all dem, was ich zuvor mit Merciful Nuns gemacht habe. Das Album hat zwei Ebenen, mindestens. Eine Vordergründige, auf der es um die Gesellschaft der Freimaurer geht. Und eine Subjektive, in der es um die Suche nach einem höheren, besseren Selbst geht: dem Streben nach Göttlichkeit. Das Album beginnt mit den Worten eines Freimaurers „das jeder Mensch Gott ist“. Ich sehe das so. Es gibt keine Götter, keinen Gott, kein höheres Wesen. Wir selbst sind die Götter. Wir haben nur deren Ursprung vergessen. Hier und da gibt es antike Texte oder andere Überlieferungen die uns darüber berichten. Nur, wir ignorieren das. Verurteilen es sogar. Dabei sind die uns angebotenen Alternative, man nennt sie Religionen, mehr als nur an den Haaren herbeigezogen. Wie einfältig muss man sein, um an derartiges zu glauben. Nicht umsonst ist das Wissen, der größte Feind der Religionen.

Kann es überhaupt Anomalien geben, wenn „normal“ doch letzten Endes etwas sehr Individuelles ist und sich selbst dabei ändern kann? Gerade im Universum geschieht so viel, dass Anomalien doch das Normale sind, wenn man mit diesen beiden Begriffen arbeiten möchte. Artaud: Durchaus richtig was Du sagst. Im Universum herrscht durch die schiere Vielzahl an Möglichkeiten das Chaos, die Unordnung. Das liegt aber nur daran, dass der Mensch nicht in der Lage ist, dass wirklich große und komplexe System dahinter zu verstehen. Die Anomalie die ich thematisiere, ist eine Person, die nicht zu anderen passt. Ein Außenstehender, einer Verstoßener, Jemand, der sich jeglicher Anpassung widerzieht.

Wenn man sich das Album durchhört, dann fällt einem nicht nur die Komplexität der einzelnen Songs auf, sondern auch ein imaginärer roter Faden, der den Hörer durch das ganze Album trägt. Und das nicht nur auf einer textlichen Ebene, viel mehr auch auf einer musikalischen. Wie schafft man es einzelne Songs so zu komponieren, dass sie sich zu einem großes Ganzes zusammenfügen? Artaud: Indem man beim Songwriting das komplette Album im Hinterkopf hat. Ich arbeite ja sowieso gerne eher Album- als Songorientiert. Würde ich rein songorientiert Stücke schreiben, dann wäre ich ja vom Zufall abhängig, ob die jeweiligen Stücke zusammenpassen oder nicht. Und Zufälle mag ich nicht.

Ist „Saturnalia“ eine Rückkopplung auf das „Dawn“-Album, Deiner legendären Garden of Delight? Wenn ja, ganz bewusst so geschrieben oder eher zufällig so geschehen? Artaud: Beabsichtigt oder bewusst ist das jedenfalls nicht geschehen. Was mir aber durchaus während des Songwritings aufgefallen ist, ist dass das ganze Album etwas gitarrenlastiger ausfiel als ursprünglich geplant. Das kann und mag man als Parallele sehen. Aber dann könnte man auch auf EXOSPHERE verweisen und müsste erst gar nicht so weit zurück gehen.

Welches ist dein persönlicher Lieblingssong auf „Anomaly X“? Artaud: THE PYRAMID.

Warum? Artaud: Aus genannten Gründen. Und weil er vielleicht etwas Besonderes hat. Etwas, was nicht von dieser Welt ist.

Der Song gefällt mir wirklich sehr. Im Booklet steht das der Song auch von Baudelaire geprägt sei. Welches Gedicht von ihm hat dich dazu inspiriert? Artaud: „The Saddness of the Moon“. Er transportierte die von mir wahrgenommene und angesprochene Traurigkeit um mich herum am besten.

Kannst du mir bitte auch noch Einzelheiten zur Entstehungsgeschichte von „Anomaly Part 1: Moon Water“ und „Anomaly Part 2: Crack In The Universe“ erzählen? Warum zwei Teile? Artaud: Ursprünglich waren es zwei Songs mit derselben Tonlage und nahezu identischem Tempo. Der Zufall wollte es als zusammenhängendes Ganzes. Ich habe mehrfach versucht aus beiden Teilen einen kürzeren Song zu machen. Das funktionierte aber nicht und irgendwann wollte ich das auch nicht mehr und es blieb bei der Version, wie sie jetzt auf dem Album zu hören ist.

Wie ich Dir im Vorfeld dieses Interviews schon gesagt habe, finde ich das Video zu „Blue Lodge“ hervorragend. Für mich gehört es zu dem Besten, was ihr jemals gedreht habt. Wer hat Regie geführt? Wo wurde es gedreht? Hintergründe? Artaud: Danke. Ich finde es auch sehr ansprechend. Und Jawa hatte sichtlich Spaß daran mich zu drangsalieren. Diese Seite kannte ich von ihr noch gar nicht (lacht). Das Video wurde in Woolton Hall, einer verlassenen Freimaurerloge in Liverpool, in einer kleinen tschechischen Dorfkirche in Lukova, sowie auf Schloss Lohm in Brandenburg gedreht. Dort haben wir auch das zweite Video THE PYRAMID gemacht. Wir drehen die Videos in Eigenregie. Ich habe das Glück innerhalb der Band/Crew gleich zwei versierte Kameramänner dabei zu haben. Wenn man hier von Regie sprechen möchte, dann war ich wohl der Regisseur.

Der Song ist grandios: Kannst du bitte ein wenig mehr darüber erzählen? Warum habt ihr ihn als erste Auskopplung ausgewählt? Artaud: Weil er phänomenal ist. Was soll ich sonst zu BLUE LODGE sagen (lacht). Nein, wir haben lange überlegt, ob wir nicht zuerst mit ON THE SQUARE raus gehen sollten. Der knüpft musikalisch doch recht nah an unsere letzte Single ETERNAL DECAY an, welche doch recht erfolgreich war. Ich fand das jedoch etwas zu einfach und wollte überraschen. Solch eine klassische Goth Nummer hat es doch schon ewig nicht mehr gegeben.

Kannst du bitte näher auf das Coverartwork und dessen Bedeutung eingehen? Artaud: Die Pyramide? Eigentlich war für das Cover das Logo auf der Frontseite des Booklets vorgesehen. Ich wollte aber mehr „Leere“ dort zeigen, es reduzierter halten, keinen Bandnamen, keinen Titel einfügen… es sollte bedrückend wirken. Das Cover, wie es jetzt ist, zeigt eine „Pyramiden-Finsternis“. Als ich den Entwurf zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass es das ist. Die „verfinstere Pyramide“ hat mich dann durch das komplette Songwriting begleitet. Die hing als großes Bild an der Wand hinter meinem Mischpult. Das Bild sieht man übrigens in beiden Videos, wenn man genau hinschaut. Und wenn man noch genauer hinschaut, sieht man eine Welt voller Symbolik, die mit den Riten und Gebräuchen der Freimauer spielt.

Dem 34. Grade? Artaud: Auch dem. Und der kann nur von einer Frau erreicht werden. In der konservativen männerdominierten Freimaurerwelt ein Sakrileg, gibt es doch nur 33 Grade. Unnötig zu sagen, dass ich mich zwar fasziniert, aber kritisch bis ablehnend mit dem Ganzen auseinandersetze. Liberalität ist mir sehr wichtig. Ich glaube an ein unabdingbares Gleichgewicht zwischen Frau und Mann. Der Herr ist kein Herrscher, das Weib nicht dem Manne untertan. Ich nenne es nur nicht Emanzipation, sondern Gleichklang der Geschlechter. Ein Normalzustand, den viele Männer nicht akzeptieren wollen oder soziologisch nicht können. Wir brauchen einen neuen Anfang, eine NEO ALPHA GENESIS.

Das ist der Name des ersten Songs auf “Anomaly“. Worum geht es hier? Artaud: Um eine neue, gerechtere Welt. Und damit meine ich nicht nur das gerade genannte Verhältnis zwischen Mann und Frau, sondern auch das von Mensch und Umwelt, inklusiver andere Lebensformen, die in ihr wohnen. Wir beschreiten da gerade einen bedenklichen Weg.

Schätzt Du persönlich in Deinem Leben eher das scheinbar normale oder den Reiz und die Herausforderung von Abweichungen hiervon? Hat sich das mit den Jahren geändert? Artaud: Eine interessante Frage. Auch gerade, weil sie nicht leicht zu beantworten ist. Auf der einen Seite erlebe ich gerne etwas, reise viel und suche permanent nach neuen Eindrücken. Diese dürfen gerne auch krass und andersartig sein. Gerade in der Kunst und vor allem in der Musik bin ich sehr schnell gelangweilt vom Gleichklang oder Konformität der Künstler. Der kreative Input, wenn ich ihn mal so nennen darf, kann also nicht fremdartig genug sein. Auf der anderen Seite brauche ich in meinem täglichen Leben nicht viel „Neues“ um glücklich zu sein. Ich weiß was mir gefällt, ich weiß wen ich liebe und auch was mir schmeckt. Das könnte Jemand jetzt durchaus als langweilig bezeichnen. Demjenigen würde ich entgegnen, ob er noch auf der Suche oder schon angekommen sei.

Hattest Du selbst schon Zeit und Muße für einen Rückblick, nachdem das Ende der Band beschlossene Sache war? Wenn ja, wie fällt dieser aus? Oder wird das für Dich erst nach der letzten großen Tour überhaupt relevant? Oder schaust Du nie zurück, sondern immer nur nach vorn? Artaud: Ich schaue tatsächlich grundsätzlich gerne nach vorne. Aber ich bin schon sehr stolz auf das, was wir mit den Nonnen geschafft haben. Das war schon echt einzigartig. Und wie ich schon sagte, mehr geht nicht. Ab jetzt würde ich mich nur wiederholen und höchstwahrscheinlich stetig an Relevanz verlieren. Das hat diese wunderbare Band nicht verdient und deshalb hören wir auf dem Höhepunkt auf!

Wie geht es weiter? Wirst du mit Jawa zusammen ein neues Projekt ins Leben rufen? Was ist von Artaud Seth in Zukunft musikalisch zu erwarten? Artaud: Ich werde immer Musik machen. Das ist meine Leidenschaft. Wohin mich meine Kreativität noch treiben wir, weiß ich nicht. Aber irgendwo hin bestimmt!

Du hast erwähnt, dass ihr noch auf Tour gehen möchtet? Wo und wann sind die letzten Auftritte von Merciful Nuns geplant? Welches sind die letzten Gelegenheiten euch noch einmal zu sehen? Artaud: Wir geben 12 letzte Konzerte in Europa, sowie 4 in Süd- und Mittelamerika. So zumindest der Plan. Schaut einfach mal auf unserer Webseite www.MercifulNuns.com oder auf unsere Facebookseite vorbei. Da stehen dann die Daten drin.

Danke für Deine Antworten und für Deine Geduld mit meinen Fragen!
Und für ein erneut großartiges Album! Artaud: Ich danke Dir!

Axel Schön & Katrin Hoog

2 Comments

  1. MERCIFUL NUNS live

    18.10.2019 Hameln (D) Autumn Moon
    17.08.2019 Fürth (D) Dark Ascension
    15.08.2019 Waregem (B) W-Fest
    12.07.2019 Bolkow (PL) Castle Party
    03.05.2019 Weißendörfer Strand (D) Plage Noire

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